Drei Träume in Wirklichkeit

Während heute Beziehungen oft enden, bevor sie beginnen – nachzulesen in Eva Illouz Buch „Warum Liebe endet“ – konnte es früher noch passieren, dass sie bestanden, ohne anzufangen. So muss ich staunen, wenn ich an eine besondere Brieffreundschaft zurück denke, die ich in den 1990-er Jahren mitgestaltete.

Heute gibt es wenig Subtiles: wenn sich Menschen kennen lernen, wird ziemlich schnell abgecheckt, um welche Form von Beziehung es sich hier handeln könnte. Wenn sich zwei Singles treffen oder im Internet anschreiben, wird bewusst oder weniger, ruckzuck das Matching überprüft. Natürlich ist das auf Dating Platformen noch viel krasser als anderswo, denn dort geht’s ja um nichts anderes. Dabei geht’s meistens zentral um Sex, so beschreibt Eva Illouz im selben Buch, dass heutzutage Beziehungen mit Sex beginnen.

Als ich in den 1990-er Jahren studierte, wurde ich eines Tages von einem Mann per Briefpost angeschrieben. Offensichtlich hatten wir eine kurze Zeit zusammen studiert, ich hatte aber keine Erinnerung an ihn, er war mir schlichtweg nicht aufgefallen. Da der Brief interessante Formulierungen enthielt, schrieb ich zurück. Damals geschah das noch von Hand oder mit meiner Hermes und dazwischen mehr und mehr auch mit dem Computer. Diese Brieffreundschaft etablierte sich, wir tauschten uns über alles Mögliche aus: Philosophisches, Literarisches, dazwischen Persönlicheres. Er hatte die wunderbare Gabe, kleinste Details so zu beschreiben, dass selbst die Schilderung einer Schraube interessant wurde. Die Briefgestaltung war auch wichtig. So kreierten wir allerlei phantasievolle Strukturen, die wiederum mit dem Inhalt interagierten, woben wirklich Textmaterial. Und einmal beschlossen wir, ein kleines Büchlein zu gestalten: man konnte es von zwei Seiten her lesen. Der Titel der einen Seite lautete: „Drei Küsse in Wirklichkeit“ und von der anderen Seite her: „Drei Träume in Wirklichkeit“. Wir beschrieben darin (von beiden Seiten her lesbar) je drei Träume, die wir tatsächlich gehabt hatten. Im Nachhinein finde ich es witzig, dass eben die drei Küsse in Wirklichkeit höchstens ein Traum blieben und nie als Wunsch ausgesprochen wurden. Ich bin nicht mal sicher, ob wir von Küssen geträumt haben, ja ich bin sogar überzeugt, dass es mir darum gerade nicht ging. Die Erotik lag in diesem Schreiben, in der Neugierde, was wieder im Briefkasten liegen wird. Vielleicht sind die Ordner mit diesen Briefen etwas vom Schönsten, das ich besitze (nebst meinem Cello).

Nach mehreren Jahren wussten wir nicht einmal, wie wir aussehen, zumindest hatte ich kein Bild von ihm. Wir hatten uns auch nie nach Fotos gefragt. Womöglich war das auch damals selten, aber ich vermute, heute noch viel undenkbarer. Irgendwann wurde doch die Neugierde angestachelt. Wir beschlossen, uns zu treffen! Er reiste nach Basel. Ich war vom ersten Moment an total befremdet. Ich brachte das Bild, das ich mir aufgrund der Briefe gemacht hatte, fast nicht zusammen mit diesem Mann, den ich nun antraf. Das Virtuose in seinem Schreiben wurde überdeckt von einem Bild der alltäglichen Unbeholfenheit. Ich habe noch das Bild vor Augen, wie er aus einem Tetrapack Milch trank.

Nach dem Besuch schrieben wir weiter, aber es war nie mehr dasselbe, es war vermutlich der Beginn eines Endes, das sich noch ein wenig hinzog. Aus heutiger Sicht überwiegt wieder deutlich das Bild von Schönheit oder Glück, in der Erinnerung an das, was uns zusammen möglich war.

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1 Kommentar zu „Drei Träume in Wirklichkeit

  1. Sehr feine Zeilen! Ich möchte gleich in der nächsten Buchhandlung nach dem Büchlein fragen…
    Ich erinnere mich an ein paar ähnliche Erlebnisse, intensive und gelegentlich sehr erotische Briefwechsel, bis wir einander einfach mal treffen wollten – was entweder in einer Ent-Täuschung über die Disparität in der Erscheinung des andern (bzw. in dessen Wahrnehmung) endete, mit anschliessend erlahmender Korrespondenz, oder aber im Bett, was die Ent-Täuschung einfach verzögerte, wenn auch manchmal um viele Jahre…

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