Grenzenlos Lieben – ein naives Schlagwort

Immer wieder lese ich über „grenzenlose Liebe“, wenn es um Beziehungen geht: sei es in Beziehungsratgebern oder im Zusammenhang mit Polyamorie. So kam gerade kürzlich ein Buch heraus, das sich – zumindest laut Titel – mit Polyamorie beschäftigt und im Untertitel „Lieben ohne Grenzen“ unbescheiden ankündigt. Ich möchte mich im folgenden gerade um die Kehrseite kümmern: das Lieben mit Grenzen.

Selbst wenn Menschen Abmachungen treffen, dass sie sich etwa nicht einengen wollen in Liebesdingen, keine Besitzansprüche hegen und der individuellen Entfaltung keinesfalls im Wege stehen wollen, lieben wir Menschen immer begrenzt. Wir sind nie vollkommen liebesfähig, sondern die Grenze liegt in erster Linie in uns selber. Ich gehe davon aus, dass sich auch niemand selber vollkommen oder grenzenlos liebt. Und ein Gegenüber wird ebenfalls immer wieder Befremden und Unverständnis, zwischendurch auch Ablehnung in uns wachrufen. Dies einfach zu verneinen oder ignorieren, kann heikel werden. Das Thema berührt die Frage, ob wir uns als Individuen verstehen, die in manchen Hinsichten voneinander getrennt sind, oder ob wir – wie das in spirituellen Ansichten oft vertreten wird – davon ausgehen, dass Trennung eine Illusion ist und in der Aufgabe von Ego-Identifikationen aufgegeben werden könnte – zumindest teilweise oder versuchsweise. So etwa beschrieben bei Eckhart Tolle: „Jetzt! Leben in der Gegenwart“. Hier wird von einer Seele ausgegangen, die ungetrennt von allem Sein ist und auch nicht der zeitlichen Dimension unterliegt.

Ich kann beiden Ansichten etwas abgewinnen und tendiere dazu, keine als absolut richtig oder falsch zu bewerten. Zum einen finde ich es ungesund, Trennung nur zu verneinen, aber auch die ständige Betonung des Getrenntseins oder das penetrante Hochhalten des Individualismus, halte ich für verfänglich. Denn die Auswirkungen in der Betonung der Differenz sind etwa zu erkennen in aggressivem Nationalismus. Ein Zuviel an Individualismus führt zu ungesunder Vereinzelung. Mein Vorschlag ist, dass wir differenzieren, wo Trennung und die Anerkennung von Differenz Sinn machen und wo sie unnötig sind oder sogar schädlich. Wenn das Argument der Differenz zu einer Hierarchisierung führt, gilt es, besonders aufmerksam zu sein. Etwa auf die Geschlechter bezogen heisst das: so lange nur festgestellt wird, dass es Unterschiede gibt zwischen Mann-Menschen und Frau-Menschen, ist das noch nicht problematisch. Aber wenn die Differenz dazu dient, das eine Geschlecht über das andere zu stellen, oder die Existenz anderer möglicher Geschlechter zu ignorieren, wird es schwierig. Die Anerkennung der Vielfalt kann wiederum zum Problem führen, dass wir uns komplett in einer Vielfaltendiskussion verlieren: bald gibts Tausende von Geschlechtern, die alle einzeln benannt und anerkannt werden wollen. Dann wird es doch einfacher zu sagen: jeder Mensch ist unterschiedlich, ohne aber einzelne Kategorien schaffen zu müssen.

Das Schlagwort „grenzenlos lieben“ muss also skeptisch hinterfragt werden. Wenn wir die Realität von so genannten Liebesbeziehungen beobachten, kippt nicht selten Liebe sehr direkt in Hass. Und da würde ich unterstellen: wenn Liebe zu Hass werden kann in einer Konstellation, war sie nicht grenzenlos. Oder sie war eben in dem Sinne grenzenlos, dass niemand dort, wo es nötig war, eine Grenze gesetzt hat und nur ein Ja zu allem akzeptiert wurde, bis das Nein gewaltvoll Einzug hielt.

Das Schöne, wenn das Trennende keine Bedrohung ist, etwa in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen: man kann sich gegenüber stehen und sagen: hier sehe ich etwas komplett anders als du und ich verstehe deine Haltung nicht einmal. Hier bist du mir fremd. Aber ich habe dich trotzdem gern und schätze die Auseinandersetzung mit dir! Wenn das eine Bedrohung wäre, müsste entweder die Meinung in einem Kompromiss angepasst werden, man müsste zudem so tun, als ob man sich verstünde und eine Pseudoharmonie würde geschaffen, aber auf einer unehrlichen Basis. Wenn solche Auseinandersetzungen zu ausgiebigen Diskussionen führen: umso besser! Dann wird es richtig spannend und kreativ. Im so genannten sokratischen Dialog (als Methode) geht man davon aus, dass alle beteiligten Parteien so lange weiterdiskutieren sollen und können, bis man sich einig wird in Bezug auf ein Thema. Und doch würde ich sagen: es gibt Differenzen, die sind quasi unüberwindbar, etwa wenn es um Beziehungsgestaltung geht oder um verschiedene Intimitätsbedürfnisse. Dies kann in letzter Radikalität bedeuten: wenn in einer Liebesbeziehung oder Freundschaft von einer Seite eine Trennung gewünscht wird, ist offensichtlich das Ausmass alles Trennenden so gross, dass zu wenig Verbindendes bleibt, um weiterhin von einer so genannten Liebes- oder Freundschafts-Konstellation auszugehen. Auch das kann passieren und wenn das alle Beteiligten anerkennen und gutheissen, dann muss das keine Katastrophe sein sondern im Gegenteil: vielleicht liegt das näher bei der grenzenlosen Liebe im Sinne einer Anerkennung der Andersheit als das, was uns hochromantische Bilder glücklicher Tage vorgaukeln wollen.

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