Fast wie ein unbeschriebenes Blatt

Über viele Jahre bestand mein Forschungsschwerpunkt insbesondere aus Beziehungsfragen. Polyamorie beschäftigte mich zentral, die Infragestellung von gesellschaftlichen Credos. Soweit so gut. Ich bereue auch nicht, mich so intensiv mit diesen Themen beschäftigt zu haben. Aber nun fühle ich einen Wendepunkt näher kommen. So lange war es für mich klar, dass in diesen Themen, wenn sie denn nur genug durchschaut und bearbeitet sind, ein grosses Potential für eine positive Entwicklung liegt, dass Lebendigkeit freigesetzt werden kann, die sonst in fragwürdigen Konzepten versandet.

Und nun fühle ich etwas, das fast besser in Bildern als Gedanken beschrieben werden kann. Es ist, als ob aus einem dicht beschriebenen Blatt wieder ein unbeschriebenes weisses geworden wäre. Natürlich ist das eine Illusion, denn wahrscheinlich ist es eher so, dass ich das, was ich geschrieben habe, in der Phantasie ausradiert habe und bestimmt gibt es noch Graphitspuren, oder eine Einprägung, die nicht mehr verschwinden kann.* Und doch gibt es ein deutliches Bild, als ob alles, was ich in meinen Händen zu halten glaubte, zwischen den Fingern zerrinnt. Es ist ein Gefühl, wirklich nichts mehr genau zu wissen. Natürlich könnte man nun an eine Midlifecrisis denken oder sonst eine Sinnkrise. Aber das entspricht nicht dem, was ich empfinde. Es ist eher ein Schwanken zwischen Leere und einer potentiellen Fülle, die gerade aus dieser Leere entspringen kann. Wahrscheinlich hielt ich mich selber lange in einer Wunschvorstellung auf, nämlich, dass alternative Beziehungsmodelle mehr Glück, mehr Erfüllung, mehr Ehrlichkeit etc. mit sich bringen würden. Das mag auch für manche Menschen so sein. Aber für andere ist es auch wieder nicht so und das ist ein Aspekt, den ich tendenziell verdrängt hatte. Ich brachte exklusivere Beziehungen grossenteils mit Unbehagen, Lüge und Unmöglichkeit in Verbindung. Also muss ich zugeben, dass ich (hoffentlich wenigstens subtil) einen missionarischen Unterton in meinem Denken oder Schreiben hatte, auch wenn ich das stets verneinte. Bewusst wurde mir das mehr und mehr, indem ich einen Spiegel vorgehalten bekam: die polyamore Bubble hat diese Aufgabe übernommen. Je offensichtlicher ich sah, wie viele Menschen in ihrer Bubble ein Konzept verteidigen und gegenüber anderen aufwerten, desto fragwürdiger wurde das alles für mich. Ich fragte mich immer mehr, wieso wir heutigen Menschen so wenig Toleranzspielraum haben, wenn es um Abweichungen von der eigenen Meinung geht. Wieso dürfen wir nicht unterschiedlicher sein? Brauchen wir soviel Bestätigung? Sind wir so unsicher? Oder was sind eigentlich die genauen Gründe? Und das betrifft natürlich nicht speziell Polys sondern alle Menschen.

Heute denke ich: die Wahl des Beziehungskonzepts ist vielleicht gar nicht so zentral! Das Problem liegt meistens nicht im Aussen sondern im Innen. Wenn eine Tendenz da ist, sich selber zu übergehen, ist diese Tendenz in jeder Situation da, da spielt das Lebensmodell gar keine so prägende Rolle. Wenn ich Mühe habe, in einer einzelnen Intimbeziehung zu meinen Bedürfnissen zu stehen, wird es mir genauso schwer fallen, in mehreren Beziehungen. Andrej Togni sagte im NZZ Format („Von der Ehe und anderen Liebesbeziehungen“), in dem wir zu Poloyamorie befragt wurden, etwas sehr Zutreffendes: es sei schon schwierig genug, auch nur einen Menschen zu finden, mit dem alles einigermassen gut passt, Polyamouröse hätten es da nicht etwa einfacher, es sei genauso unmöglich.

Es gibt also kein Beziehungsmodell zu verteidigen! Verteidigung ist Kampf. Kampf ist Krieg. Krieg ist Tod. Aber wir dürfen leben. Und das Leben ist kein Lebenskonzept. Wir wissen nie, was ein Tag mit sich bringt, was morgen ist. Wenn wir das zu wissen glauben, lassen wir das, was sein möchte, in der Vergangenheit erstarren, was eine Spannung erzeugt. Die Diskrepanz zwischen dem, was gerade wäre und dem, was wir zu sehen und erleben bereit sind und zutiefst wünschen, nimmt dem Moment seinen Charme.

Vielleicht wird es Zeit, die Selbstbeziehung nochmals gründlicher unter die Lupe zu nehmen, denn sie prägt alle Beziehungen fundamental. Und dann können wir ja überlegen, was es bedeutet, dass wir soziale Wesen sind: was wir genau brauchen, damit das Bedürfnis nach Teilen, Teilhaben, Mitteilen und Teil sein gestillt werden kann. Vielleicht sollten wir hierbei etwas beherzigen, das der Glücksforscher Mike Wiking in seinem Buch „Hygge. Ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht“ verdeutlicht: Wenn wir denken, dass wir andere glücklich machen, indem wir ihnen eine Freude machen, vergessen wir, dass es auch uns selber glücklich macht.

Die Frage nach Intimbeziehungskonditionen ist in Bezug auf unser Lebensglück wohl nicht irrelevant, aber vielleicht viel weniger zentral, als ich das in den letzten Jahren angenommen hatte.

*Es gibt hierzu einen sehr schönen Text von Sigmund Freud „Notiz über den Wunderblock“: er vergleicht darin das Erinnern, bzw. den „seelischen Aufnahmeapparat“ mit jenen Spuren, die sich nach dem Schreiben in Schreibzaubertafeln zwar auswischen lassen, aber trotzdem niederschlagen und auch nach dem Löschvorgang stets übrig bleiben.

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1 Kommentar zu „Fast wie ein unbeschriebenes Blatt

  1. Oh, schöner Text! Denke ganz ähnlich heut. Entscheidend ist doch, wie ich mich zu mir verhalte, wie gut ich auf mich selber höre und entfalte, was mir mitgegeben wurde – und wenn ich Viele bin, ist das schon schwierig genug… Wenn ich dann auf meinem Weg einer Person begegne, die sich mit mir entschliesst, ein Stück gemeinsam zu gehen, ist es, was es ist: wunderbar und ein Stück von mir. Aber es ist nicht mein ganzes Leben, und wenn ich das vergesse, ist das gemeinsame Gehen schon vorbei.

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